Head Ansichten B

Es ärgert mich regelmäßig, wenn andere mit unseren begrenzten Ressourcen so umgehen, als ob wir eine zweite Erde in petto hätten. Mehr als einmal hatte ich schon den Impuls, diese Menschen mit ihren neuen SUVs, ihrer Lust auf Erdbeeren zu Silvester und ihrem Rechtsanspruch auf Flugreisen hier anzuklagen.

Oder zumindest mein Unverständnis kundzutun, warum Verzicht für die meisten Menschen um mich herum — jedenfalls für jene, die nicht ohnehin jeden Cent zweimal umdrehen müssen — komplett undenkbar ist.

Als meine Tirade gerade ordentlich an Fahrt aufnimmt, haut Nachbarin Lisa die Bremse rein: Wenn ich meine Genügsamkeit zum Maßstab mache, stelle ich mich über die anderen, und Überheblichkeit hat noch nie zu einer friedlichen Revolution geführt.

Dauerhaftes Wachstum, und sei es noch so umweltfreundlich, ist eine Illusion, mahnt der Ökonom Nico Paech, wo er geht und steht. Und obwohl der normale Menschenverstand zustimmt, verkünden sogar die GRÜNEN diesen Schmarrn. Vom Rest ganz zu schweigen. Also bekommen wir bald mehr gesundes Essen, mehr digitale Teilhabe und Flugzeuge mit synthetischem Benzin. Jippieh!

Mir ist klar, dass ich von keiner Partei über der Fünfprozenthürde auf irgendeinen Postwachstumsgedanken hoffen kann. Weswegen ich bisher auf Verzichtswerbung gesetzt habe. Also Energiesparen, Lebensmittelretten, Teilen ohne Gewinnabsicht, Bahnfahren … sprich, die freiwillige Selbsteinschränkung als Beitrag zur Rettung des Planeten verkauft habe. Unterfüttert mit Thesen aus Nico Paechs „Befreiung vom Überfluss“, der auch mal die Belastung thematisiert, die mit dem Fortschritt kommt: Wie viel Zeit habt ihr in eurem Leben schon auf Handy- und App-Updates verwendet? Und ich ergänze: Wie fühlt ihr euch nach drei Folgen der neuesten Netflix-Serie? (Jetzt mal echt. Ich fühl mich leer.)

Kein Verzicht, sondern nicht mehr mehr mögen.

Ein älterer, aber keineswegs veralteter Text von Uta von Winterfeld, Researcherin am Wuppertal Institut, hat mir nun einen neuen Blickwinkel eröffnet.

Sie stieß mich auf die Erkenntnis, dass ich gar nicht verzichte!

Nein, ich finde es eine Zumutung, dass ich ständig konsumieren soll. Weil es mich langweilt, im Internet nach neuen Produkten oder Updates zu suchen. Weil ich es unmöglich finde, wenn Geräte astrein funktionieren und nur ausgetauscht werden müssen, weil keine:r mehr Support und Sicherheit gewährleistet.

Weil ich nicht arbeiten will, um einen Kredit abzuzahlen, den ich von vorherein nie aufgenommen hätte. Weil ich nicht weiß, weshalb ein 1990 gebauter Golf (ja, ein Verbrenner ohne elektrischen Türöffner und mit sechs Litern Verbrauch!) schlimmer sein soll, als in der Zwischenzeit vier neue Autos auf Pump gekauft zu haben.

Weil ich noch nie geglaubt habe, dass E-Bikes irgendein Auto ersetzen, außer letzteres wird beim Kauf eingezogen. Weil ich seit 35 Jahren in einer bescheidenen Wohnung wohne, wo sie vor drei Jahren gegen meinen Willen den sparsamen Holzkachelofen (der jetzt wieder hip und praktisch wäre) durch eine moderne Gasheizung ersetzt haben.

Ich werde Suffizienzfragette.

Uta von Winterfeld dreht den Verzichtsspieß um und bricht eine Lanze für die Suffizienz — den möglichst geringen, die natürliche Begrenzung der Ressourcen berücksichtigenden Rohstoffverbrauch.

Die Suffizienz sei nicht sonderlich beliebt, weil ihre Vertreter:innen erstens den Effizienzfortschrittsglauben (mehr Wohlstand bei weniger Ressourcenverbrauch) anzweifeln und zweitens unbequeme Fragen stellen, beispielsweise angesichts einer noch neueren, noch effizienteren, noch nützlicheren Klasse von Kühlschränken:

„Ist es eigentlich klug, im Winter einen Raum zu heizen und in diesen energieaufwendig gewärmten Großraum einen energieaufwendig gekühlten Kleinraum zu stellen, damit die Milch länger frisch bleibt?

Oder die Suffizienzfragetten, deren Dachverband ich hiermit gründe, denken darüber nach, wie viel Altersarmut und ungleiche Bildungschancen mit Wachstumspolitik zu tun haben — und ob das nicht im Widerspruch zur Menschenwürde steht.

Und weil solche Gedanken natürlich politische Sprengkraft haben — wo kämen wir denn da hin?! — wird die Genügsamkeit in Form des individuellen Verzichts als Besserwisserei abgetan. Moralapostel und -apostelinnen eben. Weltfremde Veggieday-Spinner.

Und deshalb hatte Uta von Winterfeld schon 2002 die Suffizienz als Schutzrecht deklariert: „Niemand soll immer mehr haben wollen müssen. Damit wäre die ganze Geschichte der Innovation (egal was, Hauptsache neu) und ihrer manischen Geschwindigkeit nicht mehr zu machen. Es wäre kein Wert an sich, wenn etwas möglichst schnell möglichst noch neuer würde.“

Was auch für ihre Schutzrecht-Idee gilt: Warum soll eine 20 Jahre alte Forderung keine Gültigkeit mehr haben, wenn sie noch gut ist?

Ich jedenfalls werde ab heute nicht mehr Verzicht predigen, sondern das Immer-mehr-Leisten und Immer-mehr-Haben so blöde finden wie schon — abgesehen von einer kurzen neoliberalen Erkundungsphase in den 2000ern — seit 30 Jahren. Bloß jetzt mit professoraler Unterstützung.

Zum Weiterlesen

Ausgewachsen! Ökologische Gerechtigkeit. Soziale Rechte. Gutes Leben. Ein Projekt von attac  (2011)

FAQ zur Suffizienz vom BUND

Plädoyer für weniger Individualethik, mehr Kapitalismuskritik und eine intersektionale Gerechtigkeitsperspektive

Schnittmengen mit der Suffizienz und der Permakultur: lesenswert!

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